Blutgesang Kapitel 5 – Ein Handel

Gestern ist unsere kleine Reisegruppe angekommen. Heute gewährt unser geschwächter König den beiden Wilden eine Audienz. Als sein Leibdiener bin ich selbstverständlich zur Stelle um ihn zu stützen. In letzter Zeit benötigt er immer öfter meine Hilfe. Ich bin besorgt. Mir missfällt diese Sache zutiefst. Warum Hexerei? Kann er keinen verdienten Priester oder Heerführer zu seinem Nachfolger ernennen? Es steht mir nicht zu, Aldan anzuzweifeln. Dennoch erscheint es mir seltsam, dass der größte Gegner von heidnischen Sitten und Gebräuchen ausgerechnet in der Hexerei einen Ausweg sieht. Als einfacher Diener vermag ich wohl die Entscheidungen hoher Persönlichkeiten nicht zu verstehen.

 „Nun, Menschenkönig, wie viele Sommer sollen es denn sein?“, fragte An’ja’li keck. Sie wollte ihn herausfordern, ihn dazu verlocken etwas von sich preiszugeben, das seine wahren Absichten offenbaren sollte, was auch immer diese seien. Es war ungeheuer wichtig. Um jeden Preis mussten sie herausfinden, warum und wozu er ihre Hilfe wirklich benötigte. Dieses Menschlein Aldan schien eingeschnappt zu sein. An’ja’li fand es immer wieder entzückend, wenn diese Schwächlinge verärgert waren. Indem sie ihre Entrüstung so offen zeigten, stellten sie auf geradezu obszöne Weise ihre Gefühle zur Schau und schwächten damit ihre Verhandlungsposition. Da er nicht antwortete, lenkte An’se’ko ein: „Ich vermute dreißig Sommer. Das dürfte den Zweck erfüllen, der ihm laut seinem Diener vorschwebt. Ist es nicht so?“ Ihre Stimme klang sehr geschäftig, sehr höflich, sehr zuvorkommend. Alles Teil des Spiels, Teil der Prüfungen.

 Mühsam stützt sich unser aller König auf mich, um diesen unverschämten Hexen zu antworten. „Ja, ihr vermutet richtig… Ich brauche dreißig Winter… Dann werde ich wieder… Nachkommen in die Welt setzen können… Darf ich fragen… warum ihr… eure Zeit in Sommern… und nicht in Wintern zählt?“ Er muss immer wieder Luft holen, kann kaum einen Satz beenden. Es schmerzt mich zutiefst in meiner Seele, einen Mann so schwach zu sehen, der so vieles für unser Volk getan hat. „Euresgleichen messen die Zeit in Wintern, weil dies Euch die meisten Leben kostet. Unseresgleichen messen die Zeit in Sommern, weil dies uns die meisten Leben kostet. – Was würdet ihr denn mit diesen dreißig Sommern anfangen, würden wir sie Euch geben?“, entgegnet An’ja’li. Das habe ich diesen einfältigen Wesen doch schon erzählt. Warum wollen sie es noch einmal hören?

 

„Ich muss… Nachkommen hinterlassen… sonst versinkt… mein Reich wieder in Chaos… und Krieg… Gebt mir, wonach ich verlange!“ Dieses lächerliche Gespräch erregt ihn viel zu sehr. Hoffentlich ist es bald vorüber. Sein Leben darf noch nicht zu Ende gehen. Nicht jetzt, wo alles auf Messers Schneide steht. „Und was gebt Ihr uns dafür?“ „Wie bitte?!“ Die vorlauten Worte der Hexe An’ja’li werden meinen Herren noch ins Grab bringen. Was soll das? Wieso wagen sie es, auch noch etwas für ihr Hexenwerk zu verlangen? Wir könnten sie augenblicklich für das hinrichten lassen, was sie sind. Ist ihnen das nicht klar? Unser aller König beruhigt sich wieder, sinniert über ihre Frage nach und meint schließlich: „Was würdet ihr denn dafür verlangen?“ „Wir geben Euch dreißig unserer Jahre. Alles, was wir dafür verlangen, ist ein gleichwertiges Gut. Daraus besteht ein ehrlicher Handel.“, vermittelt die andere Hexe mit ihrer beruhigenden Stimme. Sie ist nicht ganz so vorlaut wie An’ja’li, man könnte sie fast als höflich bezeichnen. „Und was wäre dieses Gleichwertige?“, will mein Herr schließlich missmutig wissen. Seinen Unmut verstehe ich nur zu gut. Warum stellen diese Wilden seine Geduld und die ihm verbliebenen Kräfte so hart auf die Probe? Er hat nicht mehr viel Zeit, also wozu diese… diese… diese Spielchen?

 „Etwas Gleichwertiges… Was sind dreißig Jahre wert? Wenn sie fort gegeben werden, sind sie für uns für immer verloren. Was ist das Leben wert, Menschenkönig? Unsere Leben gehören uns nicht. Sie gehören ganz und gar unserem Volk, auf dass wir ihm dienen und zu seinem Fortbestehen beitragen. Wir können nicht frei über unsere Lebenskraft bestimmen. Wenn wir sie einsetzen, dann ist es uns nicht erlaubt, dies für Außenstehende ohne Gegenleistung zu tun. Die Menschen der Wüste und die Dalrin sind schon seit Generationen verfeindet, das hat Euch Euer Diener doch gewiss berichtet, nicht wahr? Unseresgleichen halten nicht sehr viel von den Menschen. Tatsächlich betrachten wir sie als unsere Feinde. Nun, was würdet Ihr an unserer Stelle für unbezahlbare, auf ewig verlorene Jahre verlangen, die eigentlich gar nicht Euch gehören?“ Die Stimme An’se’kos klingt wie ein Fluss. Der Gesang in meinem Kopf ist ein beruhigendes Summen. Was könnten wir ihnen denn für so eine großzügige Gabe anbieten? Was ist das? Ich kann mich kaum dagegen wehren. Es ist, als ob etwas ungeheuer Schweres auf meinen Willen lastet und ihn nicht mehr aufstehen lässt. Der Gesang ist nicht böse, er schadet mir nicht. Doch, tut er. Nein. Was geschieht hier?

 Noch bevor ich endgültig in Verzweiflung versinke, bricht An’ja’li den Zauber An’se’kos. Mir ist nicht klar, warum sie das tut, aber ich bin dankbar dafür. Ihre ungehobelte Art ist mir daher willkommener als zuvor. „Es ist doch offensichtlich, was ein Leben wert ist: Ein Leben. Die Gleichung ist ein Leichtes: Ein Leben für ein Leben. Wenn wir nun für Euer Leben ein anderes verlangten, welches würdet Ihr uns anbieten?“ Mein Herr runzelt die Stirn, als ob er angestrengt nachdächte. Er zieht doch nicht etwa in Betracht… Doch er sieht mich an und sagt: „Nehmt diesen da… Er hat gewiss… noch die dreißig Sommer… die ich euch schulde. Gebt mir jetzt… was ich brauche… was mein Reich braucht… was ich verlange…“ Ich traue meinen Ohren nicht. Soeben wurde ich von dem Mann verraten, dem ich am meisten vertraut habe. Wie konnte dies geschehen?

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