Meine traurigste Weihnacht
Meine traurigste Weihnacht - Erzählung aus meinen Kindertagen
... heute gehe ich noch viel weiter zurück gedanklich an eine Weihnacht, die für mich persönlich so ganz anders ausfallen würde.
Es war im Dezember 1950 und mein Alter zählte gerade mal fünf Jahre. Wir waren in diesem Sommer umgezogen innerhalb von Düsseldorf und das Weihnachtsfest nahte. Ich erinnere mich noch gut an die Wohnung, wo wir vorher wohnten. Es war ein hohes altes Haus, in dem es ausgetretene Holztreppen gab, die mächtig knirschten und knackten unter jedem Schritt – das Klo war noch eine Treppe tiefer und nach oben hin ging eine steile Treppe zum Speicher, eine dustere Ecke, die mir als Kind Angst machte. Am 6. Dezember kam dort sogar einmal der Nikolaus persönlich vorbei - doch nicht alleine - Knecht Ruprecht, sein Geselle war mit von der Partie. Allein das Poltern auf der Treppe ließ damals das Blut in unseren Kinderherzen stocken und als sie dann eintraten, versteckten wir uns unter der Eckbank und nur auf Papas Arm wollte ich mich dem Heiligen Mann nähern. Er war riesig groß und schlank und hatte einen langen seidenen Bart, den ich streicheln durfte. Auch wenn die Stimme polterte, holte er doch etwas fein Eingepacktes aus dem großen Sack für uns. Doch der Knecht Ruprecht, sein Helfer - der war unheimlich, er war an einer rasselnden Kette festgemacht und hockte auf der Erde. In einem Behälter hatte er viele Ruten, sein Gesicht war kohlegeschwärzt und eine schwarze Kappe verdeckte seinen Blick. Gott sei Dank hatten wir ein Gedicht und ein Liedchen parat und so drohte uns keine Strafe.
Nun wohnten wir in der neuen Siedlung, während wir vorher in den Schrebergärten spielten, die ja eigentlich zugewachsene Trümmer und Ruinen waren. Hier jedoch gab es nun den obligatorischen Hof, mit dem gepflasterten Weg am Häuserblock entlang und den Zugangswegen zu der Teppichstange. Zwischen den Gängen war schwarzer Koks aufgeschüttet – toll zum Spielen für Kinder. Ganz hinten war eine grüne Wiese – jene war eingezäunt, damit die Kinder nicht drauf spielen würden – ja, so war das ….so verbrachten wir also die meiste Zeit auf der Strasse, wo wir Rollschuh und Roller fuhren, oft auch auf dem Kopfsteinpflaster für die Autos. Da sich das Weihnachtsfest mehr und mehr näherte, begann nun Mutter mit der großen Schwester am Wochenende zu backen. Es war die beste Zeit des Jahres, die im Gegensatz zu sonst, immer mit Heimlichkeiten, viel Fantasie und Plätzchen- und Tannenduft sowie dem Basteln von Sternen mit Stroh und Stanniolpapier verbunden war.
Doch dieses Mal sollte es anders werden und niemand konnte es vorhersehen. Meinen Wunschzettel hatte ich bereits gemalt und ans Küchenfester gelegt. Schreiben konnte ich ja noch nicht und wie immer, war er am anderen Tage verschwunden. Auch wenn mein älterer Bruder und ich genau aufpassten, sahen wir doch nie, ob ihn die Eltern dort weggeholt hatten. Im letzten Jahr in der anderen Wohnung war es schon sehr spannend gewesen, Es gab dort drei große Räume. Der erste war der Wohnraum - riesig groß, in dem Papa eine Büroecke hatte mit seinem großen schwarzen Schreibtisch, an dessen Türen dicke Knaufe waren und inmitten Löwenköpfe eingeschnitzt waren. Ein schwarzer Stuhl mit einer hohen Rückenlehne stand dabei. In der anderen Ecke war unsere Spielecke mit der Eckbank und dem stabilen Kacheltisch aus Eichenholz und ein Schrank für die Spielsachen. In der dritten Ecke stand ein altes Chaiselongue, auf dem Papa ruhen konnte. In der vierten Ecke an der Türe befand sich der alte Herd, der mit Kohle und Holz beheizt wurde und die Spüle. Und der Küchentisch stand in der Mitte, dahinter das große dicke Sofa und rundherum die fünf Stühle. Einer davon war ein Holzsessel für den Papa. Der zweite Raum war das große Elternschlafzimmer und von dort aus ging es in das Kinderzimmer, in dem unsere drei Betten standen. Wenn ich es heute überlege, war es damals so für uns Kinder gemütlich.
In der Nacht vor dem Heiligen Abend also wurden wir dort eingesperrt, da wir ja sonst immer ins Zimmer gesprungen wären, mit irgendwelchen Gründen wie z.B. *ich hab Durst oder so.*
Noch heute erinnere ich mich, als wir durchs Schlüsselloch lauerten, dass es blitzte und glänzte – das Christkind war mit Papa am schmücken, das war mal klar. Ab und an hörte man ein leises Kingen von Glöckchen. Das war kein Trug, denn wenn sie die Kerzen anhatten und Kugeln am Baum, musste dieses auch durchs Schlüsselloch glänzen und leuchten. Unserer Fantasie war längst aktiviert durch die herrlichen Märchen, die Papa immer am Bett erzählte – es ging da um Elfen und Feen, um Schneewälder, Weihnachten, Wunder sowie Zwerge. Schöner konnte ein Märchenbuch nie sein. Letztendlich vererbte er mir ja die Gabe des Erzählens und Schreibens, wofür ich ihm ewig dankbar bin.
An diesem Abend war es herrlich im Kinderzimmer, Bruder und ich erzählten uns eigene Kreationen voller Fantasie davon, was die Engel im Himmel vor Weihnachten anstellen usw. an Schlaf war schon gar nicht zu denken, dafür hatten wir keine Zeit. Natürlich brauchten wir gerade an diesem Abend öfter ein Glas Wasser. Ich musste gerade da auch besonders oft zum Klo. Aber Pustekuchen – sie banden eine Schal um die Augen und ich wurde durch den Wohnraum getragen. Lauern war da sinnlos, es war duster, doch ein herrlicher Duft nach Tannenbaum und Plätzchen stieg mir schon in die Nase. Später raschelte und klopfte und wuselte es noch die halbe Nacht hinter der Tür, doch wir schliefen irgendwann selig dem Heiligen Abend entgegen.
An all das erinnerte ich mich, als ich damals, mit roten Wangen und leuchtenden Augen, singend mit Mutter und Bruder beim Plätzchen ausstechen half. Dieses Jahr würde es wieder so schön sein. Ich erinnere mich noch an den Tag, an dem Mutter Rumkugeln machte. Diese duftenden Kugeln, die sie dann zum Schluss noch in Schokoladenkrümeln wand. Von einem auf den anderen Tag wurde mir plötzlich speiübel. Es war 5 Tage vor dem fest. Der süßliche Duft machte es noch schlimmer. Doch was sollte schon sein, Bruder und ich hatten wie immer heimlich von dem rohen Teig genascht und besonders von dem Schneeberg in der Schüssel, der nur aus Zucker und Eischnee sowie Kokosflocken bestand. Da konnte es einem schon mal übel werden. Ich bekam also den ekligen Kamillentee, den ich eh nicht leiden konnte und Zwieback, den ich aber trocken nicht hinunter kriegte mit meinen winzigen Mäusebissen. Ich lag auf der Eckbank und quälte mich mit merkwürdigen Bauchschmerzen, die aber nicht vergingen, während Mutter sich mühte, alles rundum hinzukriegen für eine fünfköpfige Familie, mein jüngerer Bruder war noch nicht geboren. Es vergingen zwei Tage und es trat keine Besserung ein, auch schwarzer Tee beruhigte den Bauch nicht, das wenige, was ich zu mir nahm und wenn es nur Haferschleim war, kam postwendend zurück. Mir ging es merklich schlechter und am dritten Tage kam dann der Arzt. Ich weiß nicht mehr, wie er aussah oder wer es war, doch ich erinnere mich noch, dass man mich aufs Bett legte und er den Bauch abdrückte und ich aufschrie, als er rechts unten drückte. Die entsetzten Gesichter meiner Eltern und Geschwister sah ich nicht. Dann ging alles sehr schnell – ich hörte nur die Worte „akute Blinddarmentzündung und Klinik.“
Wenig später hörte ich das Tatütata von dem Krankenwagen. Ich wurde nicht einmal angezogen, sondern mit einer Decke umhüllt und runter getragen von Mutter. Im Krankenwagen erzählte sie mir was von nichts merken und schlafen. Wenige Minuten später waren wir in der Klinik, wo uns eine Nonne und zwei Ärzte empfingen. Sofort wurde ich auf einen Tisch gelegt und untersucht. Ich weiß noch, dass, als der Arzt auf den Bauch drückte und mich fragte – wo es weh tut – dass ich vor Schreck nichts mehr spürte. Doch es war gefährlich und keine Zeit zu verlieren. Ich musste da bleiben. Sofort wurde die OP vorbereitet und ich bekam eine Beruhigungsspritze ins Bein. Ich lag vor den OP-Türen auf der harten Liege, mein Magen und Darm war eh leer. Alleine gelassen, starrte ich nun auf die weiße Decke über mir. Todesangst im Bauch, die auch das Medikament nicht völlig dämmen konnte. Dann wurde ich auch schon in den OP geschoben.
Irgendwann wurde ich wieder wach. Es war dunkel im Zimmer, Außer mir lag dort nur ein Mädel, etwa 9 Jahre alt. Die Kinderabteilung war überfüllt und so wurden wir in diese Notzimmer gelegt. Die Schmerzen waren groß und ein Sandsack lag beschwerend auf meinem Bäuchlein. Bewegen konnte ich mich nicht, Als ich dann mit Mühe und Not der Nachtschwester herbei klingelte, kam eine Nonne herein und brachte mir ein Schnapsgläschen voll Wasser. Der Durst war in dieser Nacht schlimmer als das Heimweh. Am anderen Tag, es war bereits der 23. Dezember kam Mutter mich besuchen. Sicher war sie erleichtert, dass alles gut gegangen war, doch davon wusste ich nichts, auch nicht davon, dass dies lebensbedrohlich gewesen war. Nun bekam ich schon ein Glas Wasser, doch nicht zuviel, damit ich nicht zu oft musste. Komplikationen traten nicht ein und wir Kinder erzählten uns irgendwas und ich weiß noch, dass ich sagte, ich würde ihr später eine Postkarte schreiben, da ich ja im nächsten Jahr in die Schule käme und dann ja schreiben könnte.
Doch dann kam der Heilige Abend und das werde ich wohl niemals vergessen. Mir ging es ein wenig besser, doch nicht soviel, dass ich hätte aufstehen können mit der frischen Narbe, die noch nicht verheilt war. Somit konnte ich auch nicht an der Weihnachtsfeier der Klinik im Aufenthaltsraum teilnehmen. Die Bettnachbarin wurde nach Hause geholt und ich lag dort nun ganz alleine. Keiner kam und brachte etwas Süßes, warum auch, ich konnte und durfte ja nichts essen. Auch die kleine Babypuppe, die ich dann später bekam, brachte man mir nicht. Ich hatte nicht einmal eine Puppe im Arm zum Kuscheln, Kuscheltiere kauften unsere Eltern nicht, die waren wohl zu teuer. Man stellte mir auch kein Zweiglein mit einer Kerze ins Zimmer auf den Tisch. Es passierte weiterhin nichts und niemand besuchte mich.
Das war die längste und kälteste *Heilige Nacht* meines Lebens. Später machte man gnädigerweise die Türe auf, dass ich wenigstens den Weihnachtschor von weitem hören konnte. Es klang wie Engelsgesang aus dem Himmel … Ich habe es dann irgendwie still vor mich hin weinend überwunden, doch verstehen konnte ich soviel Gleichgültigkeit – egal von welcher Seite aus – nicht, auch heute noch nicht! Vielleicht kommt daher meine heutige Liebe zu Teddybären - so einer hätte mich wärmen und trösten können, wenn schon kein Mensch da war - an diesem einsamen Heiligen Abend ....