Nachtruhe

Das eintönige, monotone Summen war das einzige Geräusch im Büro. Das Summen des Computers, das Summen der dicken Fliege, die Träge um die Deckenlampe flog.
Sven hatte dem Insekt in der letzten halben Stunde mehr Aufmerksamkeit geschenkt, als seiner Arbeit, wegen der er selbstverständlich hier war. Um elf Uhr abends. Eigentlich unzumutbar, wie er fand. Gähnend rieb er sich seine brennenden Augen und streckte sich ausgiebig.
„Schließen Sie gleich ab?“
Das war die Putzfrau – die eigentlich ein Mann von neunzehn Jahren war, der sich ein wenig was dazuverdiente.
„Ich werde abschließen, sobald ich hier fertig bin", entgegnete Sven mit kratziger, müder Stimme.
Der junge Mann nickte und schob seine Putzutensilien nach draußen auf den Flur.
„Na dann, schönen Abend noch“, murmelte er, ehe er die Tür hinter sich zuzog.
Wunderbar. Sven schnaubte. Der leichte Spott war ihm nicht entgangen. Dennoch musste er ein wenig schmunzeln. Irgendwie gefiel ihm der Junge. Hätte er einen Sohn gehabt, hätte er sich einen wie ihn gewünscht.
Sein Blick fiel auf den Monitor und dem kleinen Bilderrahm daneben, in dem ein Foto seiner zwei Töchter zu sehen war. Ein trauriges Lächeln umspielte seine Lippen. Schade, dass er sie nur alle zwei Wochen sehen durfte. Aber immerhin stand das nächste Treffen bereits vor der Tür.
Der Bildschirm wurde schwarz, als er automatisch in den Ruhestandsmodus umschaltete. Sven sah das als ein deutliches Zeichen, ebenfalls Feierabend zu machen. Er hatte die letzte halbe Stunde ohnehin nichts zustande gebracht. Was machte es für einen Unterschied, ob er hier oder zu Hause vor sich hinbrütete und nichts zustande brachte? Haargenau: Keinen.
Die Entscheidung fiel ihm nicht schwer, denn wer würde einem sanftes Licht werfenden Deckenfluter dem kalten, grellen Neonlicht nicht den Vorzug geben?
Langsam packte er seine Sachen zusammen, zog seinen Mantel und alle anderen Wärme dämmenden Kleidungsstücke an und hing sich seine Tasche um. Der obligatorische Rundgang, ob auch wirklich alle anderen Büros bereits leer waren, folgte, ehe er ruhigen Gewissens die Abteilungstür abschließen konnte.

Ernüchterung. Die Aufzüge waren noch immer defekt. Ein Umstand, den man einen Tag vielleicht tolerieren konnte, nicht aber fünf Tage am Stück. Er würde dem Wartungsdienst morgen Früh ordentlich was geigen.
Er seufzte ergeben. Sich aufzuregen brachte nichts, und das Treppensteigen würde ihn wohl auch nicht umbringen. Es sei denn, sie waren frisch gewischt.

Erstaunlicherweise brachte er die sechs Etagen hinter sich, ohne sich auf der nassen Treppe den Hals zu brechen – denn sie war tatsächlich frisch gewischt. Gewissenhafter Junge, der Putzmann.

Das Foyer hatte in dem ausgestorbenen Zustand, der immer zu dieser Nachtzeit herrschte, etwas Gespenstisches an sich. Normalerweise wuselten hier immer an die zehn Mitarbeiter hin und her, manche mit Handys am Ohr, andere auf dem Weg zur verspäteten Mittagspause.
Doch in dem jetzigen Zustand konnte man sich hier fast wohl fühlen.
Sven schätzte dann und wann die Einsamkeit, fern ab von all dem gekünsteltem Lächeln, das ihn tagtäglich umgab.
Was sich all die Damen dadurch versprachen, wusste er selbst nicht. Zumindest nicht, was sie sich bei ihm versprachen, war er doch eher der Durchschnittstyp, was Aussehen, wie auch Verdienste anbelangte.

Er trat aus der Tür und von jetzt auf gleich war er hellwach. Die frische Nachtluft wirkte auf seinen Geist wie ein Schlag mit einem nassen Lappen ins Gesicht am Morgen.
Sven vergaß immer wieder, wie kalt es in Frühlingsnächten werden konnte. Auf seinem Weg nach Hause würde er bei den Stadtwerken vorbeikommen. Er würde einen Blick auf das Thermometer werfen, um zu prüfen, ob die gefühlten Minusgrade tatsächlich herrschten, oder der Wind, der ihm um die Ohren pfiff, dafür verantwortlich war.
Er rückte seinen Schal zurecht und folgte dem Kiesweg, der unter seinen Stiefeln knirschte.
Zu dumm, dass die Busse um diese Uhrzeit so ungünstig fuhren. Eine dreiviertel Stunde warten oder eine Stunde Fußmarsch nach Hause? Von den zwei Optionen war ihm der Fußmarsch doch lieber. So würde er sich immerhin nicht den Arsch und andere Extremitäten abfrieren.
Er vergrub die Hände in den tiefen Taschen seines Mantels und beobachtete seine Füße, die in dem von ihm bestimmten Takt abwechselnd den Boden berührten.
Hatte er überhaupt schon Lust, nach Hause zu gehen und seinen Abend wie gewöhnlich vor laufendem Fernseher, einem Glas Wein und dem einen oder anderen Porno zur Entspannung ausklingen zu lassen?
Eigentlich war gegen einen kleinen Spaziergang nichts einzuwenden, da er nun sowieso schon mal zu Fuß unterwegs war. Wann kam das denn für gewöhnlich vor?

Langsam überquerte er eine schmale Straße und fragte sich, weshalb die Ampel, die zu dieser nachtschlafenden Zeit ohnehin ausgestellt war, überhaupt da stand, wo sie stand. Vermutlich achteten am Tag ebenso wenig Menschen darauf, wie jetzt, im ausgeschalteten Zustand.
Zwei Schritte nur, und schon fand er sich auf der anderen Straßenseite wieder.
Es waren drei Grad Celcius.

Er könnte seinen Kurs nach links setzen, würde dann ganz einfach einen Umweg durch den Park machen. Dort würde er aber ziemlich sicher auf den einen oder anderen Penner treffen, der sein Nachtlager dort aufgeschlagen hatte - nicht, dass er etwas gegen Penner hatte. Er hatte nur keine Lust, überhaupt einen Menschen zu treffen, egal wo er die Nacht verbrachte und welche Mundgeruch verursachenden Getränke er bevorzugte.
Der Umgang mit Leuten lag ihm ohnehin nicht sonderlich. Schon als Kind war er eher der kleine Eigenbrötler gewesen. Während die Nachbarskinder im Sandkasten gebuddelt oder Räuber und Gendarm gespielt hatten, hatte er meist unter irgendeinem Baum gesessen, ein Buch gelesen oder seine Drachenbilder gemalt, von denen immer Haufenweise an Mamas Kühlschrank geklebt hatten.
Auch ohne viele Freunde - er war zufrieden gewesen. Als Kind, wie auch als Mann.
Er hatte oft Streifzüge unternommen, Ausflüge, die ihm wie die reinsten Abenteuer vorgekommen waren. Es waren zwar nur kurze Spaziergänge in die diversen Parks der Stadt gewesen, ab und zu hatte es ihn auch mal ans Wasser gezogen…
Das Wasser. Verdammt lange war es her, seitdem er das letzte Mal einen kleinen Spaziergang dort gemacht hatte. Eigentlich schade, hatte es doch immer eine wohltuende Wirkung auf ihn gehabt.
Warum es jetzt nicht nachholen? Zu tun hatte er nichts Besseres.

Zum Strand schaffte er es zu dieser späten Stunde nicht mehr. Ohne öffentliche Verkehrsmittel – Dampfer und Bus schlossen sich von selbst aus – wäre es unmöglich gewesen, ohne Frostbeulen davonzukommen.
Ein kleiner Spaziergang am Hafen tat es auch.
Der Wind wehte hier stärker als noch in den Straßen. Das leise Plätschern der Wellen war nichts desto trotz gut zu vernehmen und rief ein kleines Gefühl des Fernwehs in ihm wach.
Ja, er war ein Kind der See und hatte dem Drang, die Welt zu besegeln schon ab und zu nachgegeben – auf Kreuzfahrten. Doch die vermoderten, kleinen Einmaster, die sanft auf den Wellen schaukelten, machten ihm deutlich, dass eine Kreuzfahrt nur wenig mit „Welt besegeln“ zu tun hat. Auf so einem kleinen Schiff, das man eher als schäbigen Kahn bezeichnen könnte, sollte man über die Weltmeere fahren. Ohne Plan, ohne Ziel.
Sven ging langsam, ließ sich Zeit. Denn die hatte er. Zu genüge.
Es hatte sich viel verändert, seit er das letzte Mal hier war. Am Hafen, wie auch in ihm.
Weshalb er so lange von diesem Ort weggeblieben war, konnte er nicht sagen. Er lebte in dieser Stadt, hatte schon immer hier gelebt. Vermutlich hatte er dadurch den seltsamen Zauber vergessen, der hier allgegenwärtig zu sein schien. Kein großartiger Zauber, sehr simpel und nach Fisch und Seetang duftend – immerhin etwas. Besser als die Zauber, die nach Abgasen und Hundekot stanken.
Im Wasser spiegelte sich die Runde Scheibe des Mondes, die gelblich vom Himmel schien. Es herrschte Hochnebel, weshalb das Licht so milchig war.

Der Hafen war nicht sehr lang und so machte er bereits vor dem kleinen Schiff des biologischen Instituts halt, das vor dem Aquarium angelegt hatte.
Die Hälfte des Weges lag noch vor ihm.
In einem kleinen Schaukasten konnte er auch hier die Temperatur ablesen. Ein wenig kühler war es, doch das bemerkte er nicht mehr. Zu sehr war er im nichtgrübeln versunken. Vermutlich aber war er auch so durchgefroren, dass er die Kälte ganz einfach nicht mehr spürte.
Fast automatisch steuerte er auf die zwei Holzrobben zu, auf denen er früher immer gespielt hatte – und erstarrte.
Keine morschen Holzrobben. Nirgendwo. Nicht mal ein von Splittern durchzogener Stumpf, der daran erinnern könnte.
Stattdessen steckte ein buntes Seeungeheuer seinen hässlichen roten Kopf und die Rückenflossen aus dem Pflaster am Boden.
Wieder starb ein kleines bisschen Kindheit, zusammen mit dem neuen Jungen auf der Kinder-Schokoladenpackung.
Das Seeungeheuer sah unfreundlich drein.
Sven fragte sich, ob wohl in dem alten Becken vor dem Aquarium statt Robben nun auch ein großes, buntes Nessie herum schwamm. Das wäre immerhin eine Attraktion, die auch er sich nicht entgehen lassen würde.
„Schade um die süßen Robben, nicht wahr?“
Svens Herz setzte einen, vermutlich zwei Schläge aus, eher er sich mit einem Satz und einem unterdrückten Schrei umdrehte.
Eine alte Dame mit einem fliederfarbenen Kopftuch und einem Gesicht mit Runzeln aus mindestens achtzig Jahren lächelte ihn freundlich an. Das Großmütterchen stützte sich lässig auf ihrem Gehstock ab.
„Bitte, was?“, blaffte Sven sie unhöflich an.
Die Greisin deutete mit einer fleckigen Hand in die Richtung, in die er eben noch so fassungslos gestarrt hatte. „Na, die niedlichen Holzrobben. Ich war genauso erschüttert wie Sie, als ich gesehen habe, dass da jetzt so ein hässliches Monstrum steht und dumm aus der Wäsche guckt“
Sven schüttelte verwirrt den Kopf. „Woher wollen Sie denn wissen, weshalb ich so erschüttert ausgesehen habe? Glauben Sie, ein Seeungeheuer aus Stein könnte mich aus der Bahn werfen?“
Das Mütterchen setzte sich langsam in Bewegung und Sven tat es ihr nach, ganz ohne darüber nachzudenken.
„Nun, ein Seemonster vielleicht nicht. Aber ein weiteres Stück Kindheit, das Ihnen abhanden gekommen ist und nun nur noch in ihren Erinnerungen existiert.“
Sven schluckte. Ein wenig dramatisch ausgedrückt, aber im Grunde hatte die alte Dame Recht.
„Wie heißen Sie, junger Mann?“
Wie tolerant das Alter doch war. Als „jung“ war er gewiss nicht mehr zu bezeichnen.
„Sven Wagner.“
Die Dame lächelte. „Guter Name.“
„Finden Sie?“
„Aber ja.“ Sie nickte eifrig. Eine süße alte Dame war sie. Eine Großmutter wie aus einem Bilderbuch. „Er klingt gut. Ich heiße Janette. Sie können mich aber gerne Netti nennen. Wollen wir uns ein wenig ausruhen?“ Sie nickte zu einem der neuen Bänke, die rund um das Seeungeheuer standen.
„Aber, gute Frau – ist es nicht ein wenig zu kalt zum Sitzen?“
„Für Sie oder für mich?“
„Für uns beide.“
Netti lachte. „Ach, I wo. Ich bin in Skandinavien aufgewachsen. Heute Nacht ist es doch ausgesprochen mild."
Was auch immer die Dame sagte, Sven wäre am liebsten wieder aufgesprungen, als er sich schließlich langsam auf die einfache Holzbank niederließ. Selbst durch den dicken Stoff seiner Jeans war das Holz wie Eis.
Das Seeungeheuer drehte ihnen beleidigt den Rücken zu.
Sollte es ruhig, auf ihn legte hier keiner der Anwesenden wert.
„Tut mir Leid, ich wollte sie eben nicht erschrecken." Sie lächelte. „Was verschlägt Sie zu solch später Stunde hier an den Hafen?“
„Der Fahrplan der Verkehrsgesellschaft. Und Sie?"
„Ich liege mit dem Sandmann im Clinch. Ich dachte, ein Spaziergang würde mich sicher müde machen. Besser als das Abendprogramm hilft es allemal."

Dafür, dass Sven gehofft hatte, der Einsamkeit fröhnen zu können, war ihm die Gegenwart der Alten nicht unangenehm. Sie erzählte nicht - wie die meisten alten Menschen - aus der Nachkriegs- oder der guten alten Zeit. Sie plapperte einfach ein wenig. Und er hörte zu und gab ab und ab ein „Mh-hm" oder „Da haben Sie Recht" von sich.
Normalerweise signalisierten diese Worte Desinteresse. Doch in diesem Fall hätten unpassende Antworten seinerseits die sonderbare, ruhige Atmosphäre zerstört.

Es hatte zu schneien begonnen.
„Entschuldigen Sie, ich halte Sie auf." Janette legte ihren Kopf schief und lächelte mild. „Sie haben sicher eine Frau und liebe Kinder, die sich Sorgen, weshalb der Vater nicht nach Hause kommt."
Sven nickte daraufhin einfach nur und erhob sich mit vor Kälte steifen Gliedern. Er wollte der alten Dame hochhelfen, doch diese winkte ab.
„Lassen Sie nur, junger Mann. Ich werde noch eine Weile den Wellen lauschen."
„Sind Sie sich sicher? Nicht, dass sie sich noch den Tod holen."
Nettis Gesicht verzog sich zu einem breiten Lächeln. Für einen kurzen Moment sah sie zwanzig Jahre jünger aus. „Den Tod kann man nicht holen. Aber er ist ein netter Herr. Lange bevor entschließt, einen einzuladen, klopft er ganz sachte und höflich an die Tür."
Das Schneetreiben wurde dichter.
„Gute Nacht, dann, Netti."
„Das wünsche ich Ihnen auch."

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