Der Mord, den es nie gab? Der Fall Genditzki
Im sogenannten "Badewannen-Mord-Prozess" hat das Landgericht München I den wegen Mordes angeklagten Manfred Genditzki nach mehr als 13 Jahren Haft freigesprochen. Dem Mann war vorgeworfen worden, eine Rentnerin in ihrer Badewanne ertränkt zu haben.
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Manfred Genditzki ist frei. 13 Jahre lang sitzt der ehemalige Hausmeister unschuldig im Gefängnis, bevor die Justiz ihren Fehler eingesteht. Wenn Richter sich irren, werden Menschen grundlos um Lebenszeit gebracht. Um das zu verhindern, braucht es Kontrolle - doch die hat deutliche Schwachstellen.
"Ich habe so etwas noch nie erlebt", sagt die Strafverteidigerin Regina Rick. Sie beschreibt jenen Moment vor rund drei Wochen, als ihr Mandant Manfred Genditzki vom Landgericht München I freigesprochen wurde. Normalerweise entschuldigen sich Richterinnen und Richter nicht, wenn sie ein Urteil verkünden. Für Mitgefühl oder Reue gibt es weder einen Grund noch Platz, setzen die Repräsentanten des Rechtsstaates doch lediglich das Gesetz um.
Im Fall von Genditzki war das anders. "Es war alles hochemotional", erinnert sich Rick. Denn als Richterin Elisabeth Ehrl die Entscheidung des Gerichts verkündete, hatte sie Tränen in den Augen. "Es tut uns wirklich aufrichtig leid, dass Ihnen viele Jahre Ihres Lebens in Freiheit genommen wurden", sagte sie zu Genditzki.
Der 63-Jährige ist Opfer der Justiz geworden. Zweimal wurde Genditzki wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, das erste Mal im Mai 2010. Das Landgericht München II war sich damals sicher, dass er die 87-jährige Lieselotte K., um die sich der Hausmeister zuvor jahrelang gekümmert hatte, nach einem Streit in ihrer Badewanne in Rottach-Egern ertränkte. Der Fall wurde als sogenannter Badewannenmord bekannt und Genditzki als Mörder. Zumindest bis zum 7. Juli dieses Jahres. An diesem Tag, dem Ende des Wiederaufnahmeverfahrens, stellte Richterin Ehrl fest, dass es keinen Mord gab. K.s Tod, davon ist das Gericht nun überzeugt, war ein Unfall. Genditzki ist unschuldig.
"Ich bin jeden Abend ins Bett gegangen mit dem Gedanken, die können doch nicht wirklich glauben, dass ich eine Frau wegen einer Tasse Kaffee umbringe", sagte Genditzki in einer ARD-Dokumentation. Doch genau das glaubte die Justiz, über 14 Jahre lang. 4912 Tage saß Genditzki deswegen im Gefängnis. Gewissermaßen hat der Staat den Mann um 13 Jahre und sechs Monate seines Lebens gebracht. Sämtliche Kontrollmechanismen der Justiz hätten in diesem Fall versagt, erklärte Richterin Ehrl. Der Fall Manfred Genditzki zeigt die Schwachstellen dieses Sicherungssystems wie unter einem Brennglas.
Die David-gegen-Goliath-Situation
Das Kräfteverhältnis in einem Strafverfahren ist von Natur aus ungleich. Der Angeklagte steht dem riesigen Staatsapparat mit all seinen Ermittlungsmöglichkeiten gegenüber - eine David-gegen-Goliath-Situation nannte der Jurist und Autor Ferdinand von Schirach das mal. Um ein faires Verfahren zu gewährleisten, müssen sich die Behörden also unbedingt an wichtige Schutzregeln halten. So sind Polizei und Staatsanwaltschaft etwa schon im Ermittlungsverfahren verpflichtet, in beide Richtungen zu ermitteln - also für und gegen den Angeklagten.
Im Fall von Manfred Genditzki scheinen sich die Ermittler jedoch schnell auf den ehemaligen Hausmeister eingeschossen zu haben. Indizien seien "sehr einseitig und zu Lasten von Herrn Genditzki" gewertet worden, bilanzierte Richterin Ehrl. Dazu kommen Ermittlungspannen. Viel zu spät sind etwa die Raum- und Wassertemperatur im Badezimmer des Opfers gemessen worden. Damit fehlten wichtige Informationen, um den Todeszeitpunkt zu bestimmen - verheerend für Genditzki, wie sich im Prozess herausstellte.
Denn dort sind Richterinnen und Richter auf jedes Detail angewiesen. Damit der Staat einen Menschen nicht zu Unrecht aus dem Leben reißt, sind die Hürden für eine Verurteilung hoch. Der Angeklagte muss die Tat mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit begangen haben. Bestehen Zweifel daran, muss er - in dubio pro reo - freigesprochen werden. Im Fall von Manfred Genditzki gab es bereits 2010 viele Unsicherheiten. "Nichts, was in diesem damaligen Urteil steht, ist ein handfester Beweis", erklärt Verteidigerin Rick im Gespräch mit ntv.de.
Physik im Strafprozess
So stand die Unfalltheorie zwar schon damals im Raum, Gutachter und Gericht schlossen diese Möglichkeit jedoch aus. Die Verletzungen und Auffindesituation von K., so ihre Überzeugung, sprächen eindeutig für Fremdeinwirkung. Im Wiederaufnahmeverfahren überzeugte ein von Rick bestellter Gutachter das Gericht mit rund 500 Computersimulationen davon, dass die alte Dame höchstwahrscheinlich gestürzt war. Möglicherweise war sie beim Aufdrehen des Wasserhahns ausgerutscht. Ein ähnliches Gutachten wurde damals zwar von der Verteidigung beantragt - aber abgelehnt. "Auch, weil das Gericht damals an seiner wahnwitzigen Überzeugung festhielt, dass Frau K. niemals selbst Wasser in ihre Badewanne eingelassen hätte", sagte Rick.
Der Anwältin, die den Fall 2012 übernahm, fiel zudem schnell auf, dass die Leiche nach dem Auffinden frischer aussah, als es der vom Gericht angenommene Zeitrahmen für den Todeszeitpunkt vermuten ließ. "Frau K. musste viel später gestorben sein", bilanziert Rick. "Und zwar zu einem Zeitpunkt, für den Genditzki längst ein Alibi hatte." Tatsächlich bestätigte ein von Rick bestellter Physiker einen späteren Todeszeitpunkt im Wiederaufnahmeverfahren. Im damaligen Verfahren hieß es, man könne den genauen Zeitpunkt aufgrund der fehlenden Wassertemperatur nicht bestimmen. "Dabei lässt sich das Abkühlverhalten von Wasser und damit die Temperatur leicht berechnen", wendet Rick ein. "Das haben wir alle im Physikunterricht gelernt." Dass die Beteiligten vor Gericht oft nicht fächerübergreifend denken, sei ein großes Problem.
Das Landgericht München II war damals aufgrund von verschiedenen Indizien von der Schuld des Genditzki überzeugt. Ein großer Fehler, wie sich nun herausstellt. Allerdings lassen sich justizielle Fehltritte wie diese kaum vollständig verhindern. Richterinnen und Richter können nicht jeden, der seine Unschuld beteuert, freisprechen. Sie müssen sich auf ihre Beweiswürdigung verlassen können. Zum einen ist es jedoch immer ein Stück weit subjektiv, wie verschiedene Menschen Indizien einordnen. Zum anderen ist der Gerichtssaal kein steriler Raum: Es gibt lügende Zeugen, sich widersprechende Beweise und irrende Sachverständige.
Die Blackbox des Gerichtssaals
Eine weitere Fehlerquelle für Urteile liegt im System selbst. So ist das Gericht verpflichtet, unvoreingenommen in den Prozess zu starten. Allerdings kommt es zu diesem Prozess überhaupt erst, wenn das Gericht die Anklage zulässt. Das ist dann der Fall, wenn das Gericht - anhand der Ausführungen der Staatsanwaltschaft - findet, dass der Beschuldigte hinreichend verdächtig ist. Noch bevor das Verfahren also überhaupt losgeht, hat das Gericht die Version der Staatsanwaltschaft für zumindest schlüssig empfunden. Die des Beschuldigten hat es hingegen noch nie gehört.
Die Risiken für Fehlurteile sind somit divers. Umso wichtiger ist ein Sicherheitsnetz. Eine Art Blackbox des Gerichtssaals, eine Kontrollinstanz, die Fehler aufspürt, um sie anschließend auszumerzen. An dieser Stelle liegt laut Rick das Problem. "Wir haben in Deutschland keine funktionierende Rechtsmittelinstanz", sagt sie. Die meisten Urteile des Landgerichts, also jene Entscheidungen über hohe Geld- und Haftstrafen, werden im Wege der Revision vom Bundesgerichtshof kontrolliert. Die Kontrolle bezieht sich jedoch einzig und allein auf die Rechtsanwendung, nicht auf die Tatsachengrundlage.
Das heißt: Neue Beweise oder Tatsachen spielen beim BGH ohnehin keine Rolle. Er kontrolliert auch so gut wie nicht, ob die Beweise und Indizien, die es im Prozess gab, richtig gewürdigt wurden. Allerdings könnte er dies auch gar nicht, selbst wenn er wollte. Denn Zeugenaussagen werden in Deutschland nicht protokolliert. "Sie sperren jemanden ein Leben lang ein, ohne dass ein Wort von dem, was Zeugen oder Sachverständige sagen, im Protokoll steht", erklärt Rick. "Aus rechtsstaatlicher Sicht stehen wir damit in Europa so ziemlich an letzter Stelle."
Der BGH prüft, vereinfacht gesagt, lediglich, ob das, was im Urteil steht, nachvollziehbar ist. "Und dabei gibt der BGH dem Instanzgericht einen weiten Spielraum", wirft Rick ein. Die meisten Revisionen werden abgewiesen. So auch im Fall von Genditzki.
Die Hürden der Wiederaufnahme
Fehlende Gerechtigkeit über die Revision herzustellen, ist somit äußerst schwer. Danach wird es allerdings kaum leichter. Ist ein Urteil erst einmal rechtskräftig, bleibt unschuldig Verurteilten lediglich das Wiederaufnahmeverfahren. Die Hürden dafür sind jedoch sehr hoch, erklärt Carsten Momsen, Professor für Strafrecht in Berlin, im Gespräch mit ntv.de. Gemeinsam mit dem Strafrechtler Stefan König hat er das Projekt "Fehlurteil und Wiederaufnahme" ins Leben gerufen. Es ist das erste "Innocence"-Projekt in Deutschland. Zusammen mit Studierenden prüfen sie die Fälle von Verurteilten auf Möglichkeiten, eine Wiederaufnahme zu erreichen.
"Das größte Problem ist es, dem Gericht glaubhaft zu machen, dass es neue Beweismittel gibt. Daran scheitern die meisten Anträge." Denn das Argument, Zeugen oder Gutachten seien damals falsch gewürdigt worden, reicht nicht. Auch Sachverständige, die zu einem anderen Ergebnis kommen, als ihre Kollegen im damaligen Prozess, gelten nicht als neues Beweismittel, solange sie über keine neuen und besseren wissenschaftlichen Methoden verfügen. "Möglich sind Lügen von Zeugen, die nun mit anderen Beweisen aufgedeckt wurden oder eben ganz neue Gutachten-Techniken oder Fachrichtungen." Im Fall von Genditzki war letzteres der Schlüssel: Ricks neue Sachverständigen zur Bestimmung des Todeszeitpunkts und der Ursache waren Physiker, keine Rechtsmediziner wie damals.
Das Konzept von Autorität
Allerdings, weiß Momsen, ist die Zulassung einer Wiederaufnahme auch dann keinesfalls gesichert. Denn nun muss ein Gericht über den Wiederaufnahmeantrag entscheiden - "und um die Fehlerkultur der Justiz steht es nicht besonders gut". Viele Richterinnen und Richter scheinen zu glauben, so der Strafrechtler, dass es einem Autoritätsverlust gleichkomme, Fehler einzugestehen. "Das ist dann ein sehr altertümliches Konzept von Autorität."
Notwendig seien eine moderne Fehlerkultur und ein funktionierender Mechanismus, diese auszubügeln. "Denkbar wäre eine eigene staatliche Institution, die sich dieser Anträge annimmt", sagt der Experte. Darüber hinaus müssten die strengen Voraussetzungen für Wiederaufnahmen entschärft werden. Nur so könne das System für unschuldig Verurteilte gerechter werden.
Denn Manfred Genditzki ist nicht das erste Justizopfer und wird nicht das letzte sein. Fehler werden auch in Zukunft passieren. Daher muss der Staat die Löcher in seinem Sicherheitsnetz stopfen. Fehlurteile sind kein Kollateralschaden des Rechtsfriedens, sondern der Gau. Wenn die Strafjustiz irrt, verlieren unschuldige Menschen Lebenszeit. Eine solche Beschädigung der Biografie lässt sich nicht rückgängig machen, das zeigt der Fall von Manfred Genditzki. Der 63-Jährige ist frei, aber er konnte weder seine Kinder aufwachsen sehen noch der Beerdigung seiner Mutter beiwohnen. Das machen weder Geld noch eine Entschuldigung wieder gut.
Quelle: ntv.de
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