An einem Tag,
an dem Ameisen zu Königinnen werden,
beginnt alles mit der Tiefe –
der Kehrseite der Welt,
ein Magnet,
der das Gold der Sonne abstößt.
Stell dir vor,
ich hätte in diesem Sommer
die tastende Sonne verpasst,
die Gerüche – frisch, faulig –
das Süße, das Saure, das Scharfe
auf meiner Zunge vergessen.
Träume bauen Mauern
zwischen mir und der Welt.
Ich umarme die Illusion von Freiheit,
wasche sie mit klaren Tränen,
bis sie glänzt.
Vielleicht rettet sie mich.
Vielleicht trägt sie mich
zu den Türmen der Gewissheit.
In den Rinnen der Zeit
schlagen Krähen mit schwarzen Flügeln.
Ich streife durch die Stadt,
treffe Dichter, Musiker, Maler,
Kinder der Revolte von ’68 –
sie sitzen in Cafés
wie Nüsse in einer Torte,
träumen davon,
dass jemand in der Bahn
ihnen einen Platz anbietet.
Aber sie schweigen.
Sie haben verlernt,
zu verlangen.
Warum kommen mir heute
Heraklits Wort in den Sinn?
„Den Wachenden ist eine Welt gemeinsam,
doch jeder Schlafende hat eine Welt für sich.“
In welchem Traum
sind wir so tief versunken,
dass kein Erwachen mehr möglich scheint?
© J.Laß
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Anmekung zum Text
In einer Welt, die sich rastlos dreht, in der Zeit verrinnt wie Wasser in den Rinnen der Geschichte, stellt sich die Frage: Was bedeutet es, wirklich wach zu sein? „Kein Erwachen“ ist ein poetischer Streifzug durch innere und äußere Landschaften – eine Meditation über Erinnerung, Sinnlichkeit, Revolte und die fragile Grenze zwischen Traum und Realität.Der Text verwebt persönliche Wahrnehmung mit kollektiver Geschichte, greift auf mythische Bilder und philosophische Gedanken zurück, um eine Gegenwart zu beleuchten, die sich oft wie Schlaf anfühlt. Zwischen Krähenflügeln und Cafégesprächen, zwischen Heraklit und der tastenden Sonne, entsteht ein lyrischer Raum, in dem die Illusion der Freiheit ebenso greifbar wird wie ihre Zerbrechlichkeit.Dieses Gedicht lädt nicht zum Erwachen ein – es fragt vielmehr, ob wir je wirklich wach waren.
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