Zwischen Illusion und Wirklichkeit

 
Immer wenn die Dunkelheit ihren schattigen Mantel über das Land zog, war es Zeit für ihn, sich zu erheben, sein Kapuzenshirt tief ins Gesicht zu ziehen und in Richtung seiner Stammkneipe zu wandern.
Jetzt fühlte er sich wohl in der Welt, denn sie verhüllte und verbarg, was ihm schon viel Leid zugefügt hatte.
Mit tief gesenktem Kopf, wanderte er durch einige wenige Strassen um dann die Türe zur Kneipe zu öffnen.
Wie immer murmelte er ein freundliches „Hallo“ und wie immer bestellte er sich einen großes Bier und einen Cognac, bevor er sich eiligst in die hinterste Ecke an einen Tisch setzte.
Licht und Schattenspiel verbargen auch hier, was er zu verbergen suchte, um nicht wieder Schmerz und Leid ertragen zu müssen.
Als sich die Bedienung näherte, beugte er den Kopf, so, wie er es stets tat, vergaß aber nicht, sich freundlich zu bedanken.
 
Für die Menschen hier, war er wohl nur der komische Kauz, das Unikum, der Außenseiter.
Er spürte die Blicke, fühlte das Desinteresse und ahnte, wie sie über ihn sprachen. Einst war er genauso gewesen, bis zu diesen furchtbaren Tag, der sein Leben veränderte und ihm alles nahm und ihn zum Wanderer zwischen Illusion und Wirklichkeit machte.
Für sie war er ein Gesicht ohne Namen, ein Mensch, der stets da, aber wohl auch unsichtbar war.
Er hingegen liebte die Menschen, gab ihnen in seinem Geiste Namen und sprach mit ihnen, Abend für Abend, in dieser Kneipe, an seinem Tisch.
Die Kellnerin, eine hübsche, junge Frau mit langen blonden Haaren, die ihn stets bediente. Er nannte sie Judith.
In seiner Illusion, in seinen Gedanken hatte er sie schon oft zu einem Glas Wein eingeladen, nette Gespräche mit ihr geführt und erfahren, das sie einen kleinen Sohn hatte.
Die Wirklichkeit aber schwieg ihn an.
Dann gab es den, den er den dicken Peter nannte. Ein älterer Herr, der Abend für Abend auf einem Barhocker saß und oftmals einen Blick zuviel ins Glas warf. Er war ein bulliger, Kumpelhafter Typ und schien beliebt zu sein, was aber wohl auch an der Tatsache lag, das er bei eben diesem Bier zuviel in Spendierlaune geriet. Ja, sogar ihm hatte er mal ein Bier kommen lassen.
Auch mit ihm hielt er Zwiesprache, erzählte ihm von seinem Träumen und Wünschen, hörte sie selbst des dicken Peters Sorgen und Nöte an.
In Wirklichkeit wusste er wohl nicht einmal, das es ihn gab, würdigte ihn nie eines Blickes.
Der Besitzer der Bar, von ihm kannte er den Namen. Er hieß Manni. Oft bekam er mit, wie ein paar Jungs von der Baustelle nebenan reinplatzten und riefen.
„Hey Manni, mach und mal ne Runde.“
Manni war in seiner Illusion sein vertrautester Freund. Immerhin sah er ihn Abend für Abend und so führte er in seinen Gedanken mit ihm die intensivsten Gespräche. Manni war es egal, wer er war und wieso er immer in dieser Ecke saß mit dem Kapuzenshirt, welches tief in sein Gesicht gezogen war. Er mochte ihn, gab hin und wieder mal einen aus und wenn die Arbeit rief, dann klopfte er ihm freundlich auf die Schulter.
In Wirklichkeit begrüßte er ihn Abend für Abend mit einem mürrischen Gebrumme und verfolgte seinen Weg zum hintersten Tisch mit einem Kopfschütteln.
Einmal in der Woche kam ein junges Pärchen. Sie drückten sich immer am Kicker und der Musikbox herum. Für sie war die Kneipe wohl so eine Art Flucht, ein zu Hause, wo sie vielleicht strengen Eltern entfliehen konnte.
Er hatte ihnen im Geiste die Namen Sandra und Ben gegeben. In seinen Gedanken kickerte er mit ihnen, lachte mit ihnen und gemeinsam hörten sie den ewig gleichen Song.
In Wirklichkeit hatten sie weder einen Blick für ihn, noch für jemand anderen.
 
Er existierte nicht wirklich für die Menschen um ihn herum und er schenkte ihnen Freundschaft, reichte ihnen die Hand und sah sie als Licht in seiner Dunkelheit.
So sehr wünschte er sich, das auch nur eine seiner Illusionen sich erfüllen würden, das er tatsächlich mal mit einem von ihnen an einem Tisch sitzen dürfe um zu reden, zu lachen und miteinander ein Bier zu trinken, aber das war bisher nicht geschehen und würde wohl auch nie passieren.
Trotzdem blieben sie eine Art Familie für ihn, Menschen mit denen er sich im Geiste austauschte, Menschen deren Geschichten er kannte, auch wenn es nur Illusionen waren. Sie machten ihn glücklich und zauberten ein schmerzhaftes Lächeln über sein Gesicht.
 
An einem Winterabend nahm alles dann eine seltsame Wandlung.
Wieder kam die Dunkelheit, viel früher als sonst, sie schenkte ihm etwas mehr Zeit unter Menschen und er freute sich.
Er wanderte durch die Strassen, hob ab und zu, wenn er sich alleine fühlte und unbeobachtet, den Kopf und blickte sich um.
Kaum hörte er auch nur das leiseste Geräusch, zog er sich in die Dunkelheit seinen Shirts zurück. Er hatte Angst vor Menschen, Angst vor ihrem Spott und ihrem angeekelten Grinsen.
Gerade, als er die Kneipe betreten wollte, hörte er aus dem Inneren laute Stimmen.
„Hey Mann, gib die Kohle raus und ihr räumt eure Taschen leer. Dalli, wir machen keinen Spaß.“
Er hörte das Weinen einer Frau. Die Stimme mochte anderen fremd erklungen haben, aber er erkannte sie sofort. Es war die, die er Judith nannte.
Glas zerschellte auf dem Boden und eine andere Stimme rief.
„Komm Püppchen, zier dich doch nicht so. Bevor wir gehen, habe ich noch Spaß mit dir.“
„Lass mich in Ruhe. Hier, nehmt alles, was ich habe, aber bitte lasst mich in Ruhe.“
Vorsichtig näherte er sich dem Vorhang, der direkt hinter dem Eingang war und blickte hindurch um sich einen Überblick zu verschaffen.
Kaum jemand war da, nur Manni, Judith und der dicke Peter, der jetzt schon nichts mehr mitbekam.
Dann sah er noch zwei junge Männer, einer davon bedrohte Judith mit einem Baseballschläger und grinste sie auf eine widerliche Art und Weise an.
Sein Herz schlug wild und er selbst fühlte unglaubliche Wut. Seine Angst Menschen in die Augen zu sehen und der Wunsch sich ihnen zu verbergen, verschwand auf wundersame Weise.
Alles ihn im spannte sich an und dann tat er, was man für ihn damals nicht getan hatte, er half.
Ohne zu zögern sprang er hinter dem Vorhang hervor und überwältigte zuerst den Typen mit dem Schläger. Er entriss ihn geschickt und schlug ihm auf die Kniescheibe.
Unter gellenden Schmerzen stürzte der Typ zu Boden, riss noch einen Barhocker mit sich. Noch ehe der Andere sich bewusst war, was geschah und noch bevor er reagieren konnte, lag auch er auf dem Boden mit einem verdrehten Arm.
 
Manni rief die Polizei, die auch bald herbei eilte und die Männer festnahm.
 
Er selber ging zu seinem Tisch, zog das Kapuzenshirt wieder in sein Gesicht und bemerkte, das seine Hand blutete.
Die, die er Judith nannte, kam zu ihm. Sie ergriff seine Hand und versorgte liebevoll seine Wunde.
Er fürchtete nur, das sie sein Gesicht sehen könne und so senkte er seinen Kopf noch tiefer.
„Wer bist du? Wie heißt du?“
Sein Herz begann wild zu schlagen und jeder Teil seiner Körpers zitterte.
Zögerlich und mit sehr leiser Stimme antwortete er.
„John, ich bin John.“
„Danke sehr John. Ich bin Marie.“
Marie, dieser Name war ja noch viel schöner, als der, den er ihr im Geiste gegeben hatte.
„Ich würde meinem Retter gerne ins Gesicht sehen.“
„Nein, nein.“, erwiderte John erschrocken.
„Warum denn nicht? Was versteckst du denn?“
„Das möchtest du nicht wissen, niemand will es wissen und jeder, der es erfahren hat, wendet sich ab.“
„Wie könnte ich mich vor einem Menschen abwenden, der mich vor etwas Schrecklichem bewahrt hat, etwas, das mein Leben hätte zerstören können.“
Auch Manni kam an den Tisch und auf einem Tablett hatte er ein paar ziemlich volle Gläser mit Cognac.
„Hier, trink, das können wir jetzt alle gut gebrauchen.“
Ohne den Kopf zu heben, griff John nach einem Glas, wendete sich zur Wand und nahm einen Schluck.
„Wir sind dir was schuldig, John, war doch richtig oder?“
„Ja, John und ihr seit mir nichts schuldig. Für Freunde sollte man immer da sein.“
Marie und Manni sahen sich fragend an. Das Wort Freunde hatten sie nicht verstanden. Wie konnte er sie Freunde nennen, wo sie ihn doch immer ignoriert hatten, was ihnen erst jetzt richtig bewusst wurde.
„Freunde?“, fragten Manni.
„Ja, Freunde. Ihr seit das Licht in meiner Dunkelheit, gebt mir Kraft, wenn ich schwach bin und Mut, wenn ich Angst habe.“
Marie legte behutsam ihre Hand an Johns Kinn und bat ihn mit dieser Geste, ihr einen Blick zu schenken.
Sie fühlte, wie John sich innerlich wehrte und sie spürte seine grenzenlose Furcht, aber sie ließ ihn spüren, das diese Furcht unbegründet war und so folgte er ihren Bewegungen, hob den Kopf aus dem Schatten ins Licht.
Für einen kurzen Augenblick erschrak sie und John kehrte zurück in die Haltung, die für ihn zur Gewohnheit geworden war.
Auch Manni durchzuckte für einen Augenblick ein Schreck, aber er fasste sich und sagte.
„Du solltest den Kopf nicht von Freunden wenden. Tritt heraus in das, was dir so hilft und reiche Freunden die Hand.“
Zögerlich drehte John den Kopf wieder nach vorne und eine Träne rollte über sein verbranntes Gesicht. Sie schmerzte ihn sehr, denn die vernarbte Haut ertrug weder Lachen noch Weinen.
Zum ersten Mal seit vielen Jahren blickte er Menschen aufrecht in die Augen und es fühlte sich gut an.
Er sah keinen Spott, keinen Hohn, kein bemitleidenswertes Lächeln.
Marie näherte sich ihm und umschloss ihn mit ihren Armen.
„Danke John, vielen, vielen Dank.“
Behutsam strich sie über seine Narben und machte ihm damit sein größtes Geschenk.
„Von heute an wirst du hier nicht mehr sitzen. Da vorne an der Theke gibt es einen schönen hellen Tisch. Er ist allein für dich und wird es immer bleiben.“, sagte Manni und klopfte John herzlich auf die Schulter.
Manni zog ihn zu dem Tisch, brachte eine Flasche Sekt und ließ sich, genau wie Marie, von John erzählen, wie es zu seinen Narben kam und zum ersten Mal erzählte er Menschen, keinen Ärzten oder Schwestern, was geschehen war.
„Wir haben damals gegrillt, ein paar Kumpels und ich. Einer dachte, das er sehr klug sein und schüttete irgendein Zeug in den Grill. Ich stand zu nahe dran, eine Stichflamme stieg auf und ich brannte. Alle standen da, niemand half, ich war allein und blieb es für lange Zeit. Den Anfeindungen der Menschen hatte ich nichts entgegen zu setzen und beschloss irgendwann, das ich nur noch im Schutze der Dunkelheit hinaus gehe. So kam ich hierher. Ihr ward mein Leben.“
„Und wussten es nicht.“
„Viele wissen nicht, wie weh es tut, wenn man nicht zu der Gesellschaft gehört und nur an ihrem Rande existieren darf.“
„Hier und heute wird sich das ändern.“, sagte Manni, dem das schlechte Gewissen quer durch sein Gesicht geschrieben stand.
 
Johns Leben veränderte sich von nun an auf wundersame Weise. Er lernte all die Menschen und ihre Namen kennen, trat aus der Illusion zurück in die Wirklichkeit. Erfuhr, das der dicke Peter in Wirklichkeit Hans hieß und nur soviel trank, weil er sein zeterndes Weibsbild nicht ertragen konnte.
Das junge Pärchen kickerte mit ihm, lauschte immer dem gleichen Lied und er hörte zum ersten Mal ihre Namen, sie hießen Franziska und Tom.
 
Seine Illusionen waren für ihn immer etwas schönes und sie taten ihm gut, aber das Gesicht der Wirklichkeit war um so vieles wundervoller.
 
Die Moral von der Geschichte.
 
Unser Leben ist wie ein leeres Buch nur zwei Dinge liegen nicht in unserer Hand.
Der Tag an dem wir das Licht der Welt erblicken und der Tag, an dem es für immer erlischt.
Den Rest des Buches füllen wir mit dem, was wir sind, was uns auszeichnet, was uns menschlich macht.
Muss immer erst etwas geschehen, damit wir die Augen auch für die Schicksale anderer öffnen, so wie bei John.
„Die Würde des Menschen ist unantastbar.“
Schöne Worte aus einem Gesetz, das der Staat für uns geschrieben hat, aber Menschlichkeit, Milde, Güte, Hilfsbereitschaft, Miteinander, Füreinander, all das steht in keinem Buch, es lebt in unseren Herzen.
Die Welt hat ein dunkles Gesicht bekommen. Gewalt, Terror, Angst. Geben wir ihr ein wenig Licht und Menschen wie John, von denen es viele Tausend gibt, ein Stück vom Glück.
 
Einen John der einsam in einer Kneipe sitzt, eine Mathilde, die außer Enten füttern an kalten Wintertagen nichts mehr hat oder viele namenlose Schicksale, gibt es auch sicher in unserer Nähe.
 
 
 
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