Er stand mitten in der Höhle. Ein Zwerg. Er trug Kettenhemd, Brustharnisch, Helm mit zwei gebogenen Rinderhörnern, halbhohe Lederstiefel, in denen die Enden einer Leinenhose steckten. An der linken Hüfte trug er ein Kurzschwert, rechterhand hing ein Jagdmesser am Gürtel. Auf dem Rücken trug er einen mit Pfeilen gefüllten Köcher. Den Bogen hatte er über den Rücken gestreift, sodass die Sehne über seine Brust führte. Seine Ausrüstung vervollständigte ein Beutel aus Ziegenleder. Sein Gesicht war von einem dichten schwarzen Bart umrahmt, es waren nur zwei listig blickende Augen und eine große knollenartige Nase zu erkennen.
Der Zwerg schaute sich in der Höhle um. Die Höhle war ziemlich groß. Vom Höhleneingang her, durch die er die Höhle kurz vorher betreten hatte, drang genug Licht herein, sodass er die nähere Umgebung erkennen konnte. Kahle Steinwände ringsum. Weiter hinten führte ein Gang weiter in die Tiefe des Berges.
Er war seit gestern unterwegs. Die Spur, der er folgte, hatte ihn direkt in diese Höhle geführt. Er hatte die Spur des Bären gut erkennen können. In dem weichen Waldboden hatten sich die Tatzenabdrücke gut abgezeichnet. Er verdiente seinen Lebensunterhalt mit der Bärenjagd schon so lange er denken konnte. Er hatte dieses Handwerk vom Bruder seines Vaters, einem berühmten Bärenjäger des Landes, gelernt. Sein Vater war schon lange tot. Der Vater, auch ein Bärenjäger, war bei der Jagd einem großen schwarzen Bären erlegen, den man den „Schwarzen Tod“ nannte. Ein Geistertier wie man sagte. Der „Schwarze Tod“ tauchte immer mal wieder auf, wie ein Unwetter, wie eine Katastrophe. Die Zeiten zwischen seinem Auftauchen waren sehr unterschiedlich. Manchmal dauerte es Jahre bis man wieder von ihm hörte. Er war sehr gut zu erkennen, da er ein sehr großes Tier war, außerdem trug er in seinem schwarzen Fell einen schneeweißen Streifen Fells, der sich vom Hals des Tieres bis zu seinem Bauch zog.
Brudegor hatte den Geisterbären noch nie gesehen. Als der Bär seinen Vater vor fünfundzwanzig Sommern getötet hatte, war er fünf Jahre alt gewesen. Er konnte sich nur schwer an seinen Vater erinnern. Der Tod seines Vaters hatte für ihn sehr einschneidende Konsequenzen, denn seine Mutter konnte den Tod seines Vaters nicht ertragen und starb ein Jahr später an gebrochenem Herzen. Zum Glück für ihn kümmert sich Gotleb, sein Onkel um ihn. Er zog Brudegor auf wie einen eigenen Sohn. Gotleb war vor drei Jahren gestorben, Brudegor lebte seit dieser Zeit allein in der Hütte des verstorbenen Onkels.
Die Spur des Bären hatte ihn direkt in diese Höhle geführt. Der Bär konnte also nur den Höhlengang weiter hinunter gelaufen sein. Einen anderen Weg gab es nicht. Brudegor brauchte also nur dem Gang zu folgen, wenn er dem Bären auf der Fährte bleiben wollte. In Richtung des Ganges wurde es jedoch immer dunkler, dort wo der Gang begann war es dunkel wie in schwärzester Nacht. Brudegor nestelte an dem Beutel aus Ziegenleder und holte ein kleines, gläsernes Gefäß heraus. Ein blaues Licht schimmerte auf und erleuchtete die Höhle. Es war ein Elfenlicht. Er hatte es vor Jahren von einem befreundeten Magier erhalten, dem er in einem Abenteuer hilfreich zur Seite gestanden hatte.
Brudegor betrat den Gang. Der Weg war ziemlich abschüssig, von der Höhlendecke tropfte stellenweise Wasser auf den Boden des Ganges. Er war also gezwungen langsam zu gehen, wenn er nicht ausrutschen und stürzen wollte. Nachdem er eine Weile gegangen war sah er vor sich im Gang etwas aufleuchten. Er ging langsam näher, ein silberner Gegenstand lag vor ihm. Ein Pfeil! Ein Pfeil aus Silber, bei dem auch der befiederte Teil aus feinen silbrigen Fäden bestand.
Sofort fiel ihm die Sage um den „Schwarzen Tod“, den Geisterbären ein. Der sollte nur durch einen silbernen Pfeil aus der Schattenwelt bezwungen werden können. Und hier nun fand er einen silbernen Pfeil. Sollte dass ein Zufall sein?
Er nahm den Pfeil an sich und steckte ihn zu den Pfeilen in seinem Köcher und ging weiter. Der Weg begradigte sich und nach ungefähr einer Stunde Weges schimmerte Brudegor Tageslicht entgegen. Er schien das Ende des Höhlenganges erreicht zu haben. Vorsichtig näherte er sich dem mannshohen Ausgang und versuchte nach draußen zu spähen. Außerhalb des Höhlenganges schien die Sonne vom Himmel. An Geräuschen war nur das Zwitschern von Vögeln zu hören.
Brudegor trat aus der Höhle heraus. Vor ihm tat sich ein Stück Wald auf. Eine Art Trampelfahrt führte von der Höhle weiter in den Wald hinein. Auch hier waren in dem feuchten Boden die Bärenstapfen deutlich zu erkennen. Ihm fiel die enorme Größe der Bärenspuren auf. Er musste ein besonders großes Tier vor sich haben. Vorsicht war also geboten. Nach der Größe der Spur zu urteilen maß der Bär über fünf Ellen. Für das Fell dieses Bären würden sehr viele Münzen seinen Beutel füllen. Vom Ruhm, dem ihm das Erlegen des Bären einbringen würde, ganz zu schweigen.
Der Trampelpfad führte Brudegor zu einer Lichtung, auf der ein riesiger Bär mit schwarzem Fell gerade dabei war einen Dachs- oder Fuchsbau aufzugraben um an das geflüchtete Tier zu gelangen. Er war von der Größe des Bären beeindruckt. Er streifte den Bogen ab, um ihn mit einem Pfeil zu belegen. Dabei musste der Bär ihn gehört haben, denn er drehte sich herum, um zu schauen was hinter ihm vorging. Brudegor konnte deutlich den schneeweißen Streifen auf der Vorderseite des Bären erkennen. Es war der „Schwarze Tod, der Geisterbär! Er musste schnell handeln, sonst war er verloren! Schnell zog er den silbernen Pfeil aus dem Köcher, legte ihn auf den Bogen und zielte in Richtung des Geisterbären. Der hatte sich inzwischen zu seiner vollen, imposanten Größe aufgerichtet und schritt auf Brudegor zu. Er bot ihm seine ungeschützte Brust dar. Laut brummend kam er näher. Brudegor spannte seinen Bogen bis zum Äußersten und ließ den Pfeil von der Sehne schnellen. Im Licht aufblitzend flog der Pfeil dem Bären entgegen und schlug mit einem dumpfen Schlag in die Brust des Bären ein. Der, schmerzhaft laut brummend, versuchte mit den Tatzen den Pfeil zu erreichen, wankte und schlug dann schwer auf dem Boden auf. Ehe Brudegor näher treten konnte stieg Rauch aus dem Fell des Bären auf, es blitzte hell auf, so dass Brudegor für einen Moment geblendet war … der Bär verschwand im Nichts.
Brudegor schaute fassungslos auf die Stelle, an der der Bär sich eben noch befunden hatte. Dort lag nur der silberne Pfeil und machte Brudegor deutlich, dass er nicht etwa geträumt hatte. Er nahm den Pfeil auf. Er ließ ihn fallen, denn der Pfeil war glühend heiß. Er wartete bis der Pfeil sich abgekühlt hatte und steckte ihn dann in den Köcher zurück.
Brudegor konnte sich kaum fassen. Was war geschehen? Hatte er den Geisterbären erlegt? Hatte der sich nur in die Schattenwelt zurückgezogen um irgendwann wieder aufzutauchen? Was war mit dem Pfeil? Hatte der irgendeine magische Kraft oder war er ein Pfeil wie jeder andere? Wertvoll war er sicherlich, bestand er doch aus Silber.
Brudegor setzte sich auf den Stamm einer umgestürzten Fichte, um seine Gedanken zu sammeln. Ihm blieb nichts anderes als sich auf den Rückweg nach seiner Hütte zu machen. Leider war es eine erfolglose Jagd gewesen.
Er machte sich auf den Heimweg. Unterwegs konnte er noch einen Hasen erjagen. Immerhin konnte er so an diesem Abend noch seinen leeren Magen füllen. Später am Abend ließ er sich auf seine Lagerstatt nieder um zu schlafen. Immer noch gingen ihm Gedanken durch den Sinn, die den Geisterbären betrafen. Irgendwann kam er zur Ruhe und fand endlich Schlaf.
Er träumte. Im Traum erschien ihm ein athletischer Jüngling, gekleidet in Samt und Brokat. Eine wertvolle Kette lag um seinen Hals, auf dem Kopf trug er eine Krone aus purem Gold.
„Hallo, Brudegor“, sprach er. „Ich bin Arnulf, der Sohn von Guelbrand, dem Herrscher der Weststaaten. Ich bin der Letzte meines Geschlechts. Unser Reich ist schon vor so langer Zeit untergegangen, dass keiner der heute Lebenden noch Kunde von uns hat. Ich möchte mich bei Dir bedanken. Du hast mich erlöst. Ich war der „Schwarze Tod“, der Geisterbär. Ein unserem Geschlecht feindlicher Magier hat mich vor Urzeiten in den Bären verwandelt. Erlöst werden konnte ich nur wenn ich durch den silbernen Pfeil von einem Angehörigen eines von mir Getöteten erlegt werde. Ich konnte selbst nicht sterben und mich selbst nicht töten. Deswegen war ich gezwungen andere Lebewesen zu töten und musste auf Erlösung hoffen. Du hast den Pfeil gefunden und mich erlöst. Ich wollte dir dafür danken. Ich kann jetzt ins Schattenreich eintreten und wieder mit meinen Anverwandten zusammen sein. Dir wünsche ich ein langes, glückliches Leben. Eine Hilfe wird dir der Pfeil sein. Vergiss die Bärenjagd. Vernichte kein menschliches und tierisches Leben. Berühre mit dem Pfeil alles was wächst. Alle Pflanzen, die Du mit dem Pfeil berührst werden reiche Frucht tragen. Deine Scheuern werden immer gefüllt sein. Lebe wohl!“
Die Gestalt löste sich auf, der Traum entschwand Brudegor Sinnen. Als er am Morgen ausgeruht und erquickt wie noch nie, vom Schlaf erwachte, kam ihm sein Traum vor als sei er Wirklichkeit gewesen. Er musste Gewissheit haben. Er nahm den Pfeil an sich, trat vor das Haus. Rechts vom Eingang stand ein alter verdorrter Apfelbaum der schon lange keine Früchte mehr getragen hatte. Brudegor trat an ihn heran und berührte den Baumstamm mit der Spitze des Pfeils. Urplötzlich streckten sich die Äste, es sprossen grüne, saftige Blätter aus den Ästen und rotbackige Äpfel hingen prall vom Baum.
Arnulf hatte wahr gesprochen. Brudegor brauchte nie mehr Not zu leiden. Seine Scheunen waren immer gefüllt. Von dem Geisterbären jedoch hörte und sah man nie wieder etwas.